Detmold, 24. Januar 2020

Wissenschaftlichen Tagung im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte

Die staatlich Unterdrückung in der Sowjetunion prägt das Denken und die Kultur der Russlanddeutschen bis weit nach ihrer Rückwanderung in die deutsche Bundesrepublik. Die verschiedenen Facetten dieser Prägung war Gegenstand einer wissenschaftlichen Tagung, dessen Gastgeber das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte war.



Der Mensch und das System – das „sowjetische Gepäck“ der Russlanddeutschen zwischen Erfahrung und Erinnerung

Im Rahmen des neuen Forschungsverbunds befasst sich PD Dr. Hans Petersen mit dem „eigensinnigen Alltag“ im sowjetischen System und dem Zugang von Oral-History in der Zeit nach der Kommendatur. Konkret wird die Frage behandelt, wie sich Russlanddeutsche nicht gegen oder mit, sondern im System ihrem Leben einen eigenen Sinn gegeben haben – sowohl in kollektiv-biografischer als auch in individuell-biografischer Hinsicht. Laut Dr. Krieger kämen Erinnerungen der Alltagserfahrungen in der Wissenschaft zu kurz, obwohl die Erfahrungen eine dominante Rolle in dieser Thematik einnehmen würden.

Sowjetischer Alltag zwischen Verfolgung und Versprechen

Dr. Krieger sprach über den Bildungsstand als Indikator der gesellschaftspolitischen Lage der Deutschen in der UdSSR und in Russland. Wichtigste Erkenntnisse seiner Forschung waren, dass es bei den Deutschen praktisch keinen Zuwachs im Bildungsniveau der jüngeren und mittleren Generation gab, verglichen mit der älteren, welche noch im 19. Jahrhundert zur Schule ging. Im Klartext bedeute dies, dass die Bildungsentwicklung der Russlanddeutschen über einen längeren Zeitraum zumindest stagnierte. Gründe dafür seien vor allem die Unterdrückung der deutschen Kultur und Sprache, aber auch die Schließung der nationalen Schulen während des Ersten Weltkriegs, die Auswanderung beträchtlicher Teile der gebildeten und vermögenden Schichten, der Bürgerkrieg und die Hungersnöte der Jahre 1921/22 bzw. 1924. Auch die Entlassung eines Großteils der Lehrbeauftragten aus ideologischen Gründen und die damit einhergehende Senkung des Bildungsniveaus in den Schulen trugen, zusammen mit der insgesamt eher ablehnenden Haltung gegenüber deutscher Siedler, dazu bei, dass die Russlanddeutschen zwar nicht formal-rechtlich, aber aus sozialen und ideologischen Gründen strukturell benachteiligt worden seien, so Krieger. Diese Benachteiligung setzte sich trotz formaler Möglichkeiten bis in die 1990er Jahre fort, vor allem da Russlanddeutsche beim Erwerb der prestigeträchtigen akademischen Ausbildungen nach wie vor spürbaren Diskriminierungen ausgesetzt gewesen seien. Folge davon sei, dass die Akademikerquote unter den jungen Russlanddeutschen um etwa 40% niedriger als im Landesdurchschnitt seien. Zwar seien nach 1991 alle formalen Beschränkungen weggefallen, aber die Benachteiligung der ländlichen deutschen Bevölkerung sei geblieben.

Die russlanddeutschen Protestanten in der Sowjetunion zwischen Anpassung und Widerstand (1960er – 1980er Jahre)

Prof. Dr. Dönninghaus sprach über die Rolle der Russlanddeutschen im Streit zwischen Staatsmacht und deutschen religiösen Organisationen, die sich weigerten, ihre Gemeinde vom Staat registrieren zu lassen. Eine staatliche Registrierung bedeutete letztlich nichts anderes, als dass der Staat das Recht bekommt, sich in innere Angelegenheiten ihrer Gemeinden einzumischen. Diese Weigerung untergrub jedoch die Grundfesten der damaligen sowjetischen Kirchenpolitik, die zwar nicht mehr auf Massenrepressionen, dafür jedoch auf effektive Kontrolle und Manipulation der religiösen Organisationen von innen setzte. Auf der anderen Seite empfahlen sich russlanddeutsche Gläubige im sozialen Bereich in der Regel als vorbildliche Sowjetbürger und für die sowjetische Wirtschaft als überaus nützlich. Diese von den sogenannten Freikirchlern eingenommene Position illustriere mustergültig die treffende Bemerkung des Schriftstellers Vasile Ernu, dass die sowjetischen Dissidenten das Produkt des Zusammenwirkens sowjetischer und antisowjetischer Elemente darstelle. „Die Gläubigen, und unter ihnen besonders die Russlanddeutschen, entzogen sich der staatlichen Eingliederung und wurden als Initiativler zur Speerspitze der religiösen Dissidenten.“

Wie die Sowjetunion erinnern? Ambivalenzen russlanddeutscher Erinnerungskultur

Nico Wiethof, Ausstellungskurator am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte, sprach in seiner Rede über das Thema „Kunst, Mensch System – Jakob Wedel zwischen Anpassung und Widerstand in Sowjetunion und Bundesrepublik“. In der bereits im Sommer 2019 eröffneten Sonderausstellung wird am Beispiel des Künstlers Jakob Wedel gut deutlich, wie Menschen sich mit dem System arrangierten. In der Sowjetunion arbeitet Wedel im Auftrag der Regierung und darf sogar in den Moskauer Büros seine Arbeiten ausstellen. Allerdings beginnt er bereits drei Wochen nach dem Umzug in die Bundesrepublik seine leidvollen Familienerfahrungen mit dem Sowjetregime zu verarbeiten – allerdings verfremdet er die Gesichter, um damit allgemein auf die Erfahrungen der Deutschen in der Sowjetunion hinzuweisen. Wiethof beschrieb, dass die Ambivalenz von Mensch und System insbesondere an der Migration ausgemacht werde. Es bleibt die Frage, ob Wedel mit seiner Kunst tatsächlich nur „angepasst“ oder schon Teil der Propaganda geworden war.

Fazit

Jannis Panageotidis schließt die Tagung mit weiterführenden Fragen, die sich um das Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität drehen: Wie gestaltet sich das Leben als Mehrheit oder als Minderheit ist ein Aspekt seines Fazits. Weiter ist die transformative Integration Gegenstand seines Resümees, mitsamt der Frage, wie sich ein Individuum oder auch eine Gemeinschaft nach der Migration verändere. Des Weiteren stellt Panagiotidis fest, dass es verschiedene Gedächtnisse gäbe, sodass Konkurrenz zwischen den Erinnerungsnarrativen entstünde. Hier bleibt die Frage, welches Gedächtnis erzählt wird, sowie die Frage nach der Macht und die Funktion in der Darstellung des Erlebten.

Veranstalter

Zu den Veranstaltern gehörten neben dem Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE). Förderer des Museums ist die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Pressemittelung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte

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